Irgendwo

Kapitel 1

Ich stehe neben dem Zelt, es war auf einer Anhöhe errichtet worden, nicht weit vom grossen Lager. Zwei Wachen davor, zwei Generäle innen, einer davon verantwortlich für die der Nordostarmee, Sah, einer für die Nordgrenze, Qui. Dazu sechs Offiziere von Sah und Qui, zwei Schreiber, ein Abgesandter der Region, zwei Beamte des Versorgungsministerium.

Ich stehe neben dem Zelt, mich interessierte einzig die Aussicht, traurig, am Abend der Blick auf diese Armee. Alles was innen besprochen wird, kenne ich, war mein Leben, früher. Vor der Verbannung. Truppen, Moral, Verpflegung, Optionen, Geheimdienst-berichte und ein paar Intrigen, die nutzlosen Befehle vom Kaiser. In wenig Stunden werden Späher erscheinen, melden, dass der Feind, Lo, uns westlich umlaufen hat, eine gewaltige Armee auf die unbewachte Grenzen schleudert. Man wird ihnen glauben. Vielleicht ist es eine Nebenarmee, ein Täuschung um uns aufzubrechen, vielleicht ist es eine befreundete Armee, zu Hilfe gerufen vom Lo, der im Norden sitzt. Aber in beiden Fälle, in allen Fällen, selbst wenn die Späher nicht bestochen wurden, die Wahrheit sagen: Es ist das Beste, wir bleiben zusammen, lassen uns nicht zu weit in die Wüste locken. Neben mir wird auch Qui, die Beamten und Wi, der Älteste der Offizier das verstehen. Und es wird gemacht.

Der Lockvogel wird gefunden, vollständig ausgelöscht. Seit einigen Jahren ist das Brauch. Der Angriff auf unsere Nachhut wird schmerzen, aber keinen Erfolg haben. Lo fürchtet, dass wir seine schutzlosen Familien im Norden angreifen, wagt sich also nur so weite hervor, wie es seinem Ruhm dient, ihm erlaubt, zu behaupten er sei mutig. Und wir werden, dann schon nahe an unsere Grenze dort Winterquartier beziehen, die Ausrede ist gut. Und im nächsten Jahr wieder von vorne beginnt, auf einen Überfall warten, Bestrafungsaktionen. Oder ein Grosser Angriff, oder der zweite Versuch die Gebiete zu besiedeln und zu kaufen, wie vor 15 Jahren.

Und wie werde ich dazu stehen? Es unterstützen, oder eine neue Vision verkünden? Einen neuen Weg suchen? Ich weiss nicht ob ich die Kraft habe, ich denke nein.

Kapitel 2

Vor meiner Verbannung, als ich war, wie ein guter General sein muss, viel mir das Denken leichter. Ich wusste was der Kaiser dachte, exakt, und auch warum. Passte meine Gedanken daran an, meistens ohne sie zu verleugnen. Nichts gefiel den Kaisern, denen ich diente, besser, als ihre eigenen Visionen zu hören, versponnen zu einem filigranen Bild, einem Gesamtkunstwerk. Den fünften jedoch verstand ich nicht, er war in meinem Alten, ein Bruder des vierten, am Hof aufgewachsen. Ich hätte ihn verstehe müssen, nichts sprach dagegen. Aber es gelang mir nicht. Anfangs half meine Position, der Ruhm. Nicht allzu lange, immerhin war ich nur nutzlos, störend, nicht gefährlich. Und ohne Stolz, schon lange, immer. Das kommende Exil war nur materiell, die geistige Leere war mir schon seit ich bin eigen. Ich habe kaum ein Gefühl, kannte und kenne kein Liebe, auch andere Gefühle verstehe ich nicht, einzig die Langeweile, manchmal auch Angst, die einzige, vor dem Tod. Aber sonst Leere. Eine leere Hülle, es war wohl, was meine Kaiser schätzten, bis auf den fünften.

Kapitel 3

Der Achte war der Enkel des Dritten, und ich sein Erzieher. Eine Tatsache die Verschwiegen wurde, nicht aus Angst, mehr aus Desinteresse. Doch als er an der Reihe war – eine Intrige seiner Freunde, von ihm geduldet, zu deren Nutzen – erinnerte er sich. Er ist ein guter Kaiser, wird toleriert. Wie jeder seiner Vorgänger, die das Glück hatten, keine Ernteeinbrüche verantworten zu müssen. Der erste Kaiser, er war auch mein erster, ein Übergestalt, er prägte alles, lies den Nachfolgern keinen Platz für Fehler. Seine elf Grundsätze, das Dreieck der Gesellschaft, die universelle Rechtsprechung, die Trilogie der Religionen. Es war alles, alles von ihm. Jeder der alt genug ist, verehrt ihn. Ich war damals sein jüngster Minister, ohnehin der jüngste in allem. Immer gelangweilt, immer auf der Suche, warum alles so leer ist, warum das niemanden zerreisst, nur mich. Warum nicht die ganze Welt weint, schreit, sich verzehrt, nur ich. Diese Leere, die durch eine noch grössere, finale Leere beendet wird. Ich habe, damals mit allen Gelehrten gesprochen, habe sie in meine Häuser geholt, habe gehört & verstanden was sie mir gesagt haben: Alles ist leer, aber das ist auch gut so, daher nichts zu verlieren, keine Angst etc. Oder: alles ist voll, tauche ein, die Welt und das Leben ist ein Lustengarten für jeden, das Ende irrelevant, da wir es ja nicht erleben, zumindest die Konsequenzen nicht. Oder: Nimm deine Rolle war, zugewiesen von aussen und fülle sie aus, es wird dir Ruhe bringen, ein Leben in Einklang und respektiert von Anderen usw.

Kapitel 4

Meine jetzige Rolle nehme ich nicht wahr, es fehlt mir die Kraft, auch der Respekt vor dem Achten. Aber ich fülle sie aus mit meinem Namen, und mit der Gabe die mir geblieben ist: Ich sehe die Zukunft. Jedoch: Ob ich sie sehe, also Dank Intelligenz und Intuition immer weiss was passieren wird, oder, ob die Welt mich gewählt hat, meine Gedanken liest und genau diese nachspielt, inszeniert? Ich weiss es nicht. Oder gibt es unsere Welt nicht, sie ist mein und daher auch nicht fähig anders oder weiter zu sein als eben ich? habe ich die Meister der Leere doch nicht verstanden, zu schnell abgeschrieben? aus lauter Arroganz? Ich weiss es nicht, gut, aber die Konsequenzen, die kenne ich nur zu gut. Schlachten werden geschlagen und gewonnen wie erwartet, Intrigen gesponnen, Reiche regiert, Familien verraten, Frauen verlassen, Brüder vergiftet und Mätressen gehalten. Nur der Fünfte, ich denke er war der Gegenbeweis, er bleibt das Singuläre: ist er das Zentrum, und nicht ich? Er lebt noch immer, erzählt der Hof, in einem Kloster, wie viele seiner Vorgänger und ein Nachfolger. Dieses Privileg des Kaiser, drei Leben zu führen: vor seiner Amtseinsetzung voll, extrem, im Rausch. Dann ein Gott in vielem und natürlich machtloser als ein Dorflehrer, und am Ende: Im Kloster, frei, ohne Willen.

Kapitel 5

Die Boten kamen, die Armee wurde mobil gemacht, der Entscheid fiel deutlich, vielleicht wäre auch ohne meinen Rat die Armee als Ganzes marschiert. Jetzt sitze ich im grossen Wagen, bei den zwei Generälen, sie schlafen seit kurzem. Wir hatten uns viele Stunden nicht zu sagen gehabt, es war anstrengend. Vorne wird schon gekämpft, der Gegner hat keine Chance, steht zwischen der Grenzarmee von Qui und der anstürmend Armee von Sah. Er wird versuchen möglichst schnell und weit nach Süden vorzustossen, das beschleunigt den Untergang, gibt aber der verbündeten Armee im Norden Zeit, den Weg nach Osten abzusichern, und die Familien des Lockvogels zu schützten. Und wenn ich jetzt erwache, es anders mache, mich und die Zukunft befreie? Warum drehen wir nicht um, riskieren alles und greifen Lo an? Oder gehen nach Westen und dann nach Norden, vernichten deren Frauen und Kinder und nutzen dann ihre Verzweiflung und ihren Hass aus? Aber darf ich ein Reich opfern, riskieren, nur um mich ein paar Stunden frei zu fühlen?

Sah wacht auf, frägt mich nach dem übernächsten Schritt: Zurück an die Grenzen? eine Manöver gegen Lo, nur kurz, der Winter kommt bald? Ich spreche, Sah hört zu, jeden Laut saugt er forschend auf. Wir werden an der Grenze bleiben, die Armee in drei Teile aufteilen, in jedem Wintermonat darf ein Dritte zur Familie zurück, alles wird repariert und aufgefrischt. Im neuen Jahr, am Tag der Sterne, dem 38. Tag des Jahres, aber das darf nur Sah wissen und der Kaiser, werden wir einen Abzug vortäuschen. Der Feind wird angreifen, wir werden ihn, dieses Mal auf unserem Gebiet und nicht in der demoralisierenden Wüste, schlagen. So wird auch gleich der Verräter enttarnet, da jeder in Frage kommende von mir einen anderen Tageszahl erfahren wird.

Kapitel 6

Der Rückzug erfolgte nicht, dennoch griff Lo am 38. Tag an. Sah wurde am gleichen Tag geköpft, die angreifende Armee nicht geschlagen aber zurückgeworfen. Sahs Truppen schienen dem Kaiser gegenüber loyal zu sein, dennoch wurde jeder 10. Mann, zufällig getötet. Und auch alle, die bei der Tötung ihrer Vorgänger in der Reihe die Kontrolle verloren. Es waren lange Tage. Danach war ich viele Wochen beim Kaiser, und jetzt wieder hier, an der Grenzfront: Die Umbildung, Erneuerung der Armee, Ernennung des Generals und die nötigen, quälenden Gespräche mit den nicht berücksichtigen Offiziere. Langsam wächst ein Gedanke, eine letzter Versuch. Das Risiko zu nehmen, alles auf eine Karte zu setzten, die Zukunft herauszufordern. Alle Ressourcen, Beziehungen zu bündeln. Nicht wegen des Zieles, die paar Grenzkonflikte, dieser Haufen Sand hat keine Bedeutung, interessiert mich kaum. Auch der Ruhm, oder die Lust am Gewinnen: unwichtig. Aber die Anspannung, auch wenn nur einige Tage, das besiegen der Langeweile, warten auf die Nachricht, vielleicht ist es das wert.

Kapitel 7

Alles auf eine Karte gesetzt. Mit einer List Lo und seine Familien weiter nach Süden verlagern lassen, als Winterquartier, da sonst seine Verteidigung vor unseren (Schein-) truppen im Westen nicht einfach gewesen wäre. Meine bestens ausgerüstete, loyale Armee. Jetzt ist es ganz meine Armee, die beiden Generäle, alle Offizieren sind mir direkt und bedingungslos unterstellt, Finanzen interessieren mich nicht, es geht hier nicht um einen Feldzug zum Wohl des Reiches, hier geht es um viel mehr: ich will es wissen, Ich will die Antwort auf die Fragen. Ich will eine klare Antwort, keine Grautöne.

Dann eine weitere List, Los zu Hilfe eilenden Verbündeten werden – wieder im Westen – eben von der Scheinarmee zurückgehalten, und von den Grenztruppen im Süden aufgerieben. Und dann, wie aus dem Nichts, und sicher unerwartet, beginnt von allen Seiten unser Angriff: von Westen, den die Scheinarmee war ein Wolf, im Schafspelz, im Wolfspelz. Vom Süden, im Blutrausch und ohne gleichen in unserer Geschichte, vom Osten, durch Verbündete, die in der Wüste gar ansiedeln wollen.

Und Tage später, stehe ich jetzt auf dem Feldhügel. Neben dem Zelt, und warte. Seit langem kenne ich die Antwort nicht. Zum ersten Mal stehe ich bewusst, fragend und nervös mit den anderen zusammen, warte, fühle mich ein wenig lebendig. Sehe die Boten am Horizont, auf ihren Pferden, schwitzend und dampfend, im Wind. Dieses Bild, diese Boten, nicht deren Nachricht, habe ich verstanden. Dankend verstanden.

Christian Rusche, 2010