Tagebuch

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22.10. Angekommen 
Zu Fuss: 1505 Kilometer. Mit dem Zug, Bus etc.: 265 Kilometer und zwei Überfahrten mit der Fähre. 80 Tage unterwegs, davon 65 gewandert. Wetter: Wunderbar, 7 Regentage, sonst Sonnenschein.

Ich habe mein Ziel erreicht, Shimonoseki, die Südspitze der grossen japanischen Insel. Am Ende musste ich mich etwas beeilen: bin die letzten 4 Tage 155 Kilometer gelaufen, alleine gestern 50, das hat genau 11 Stunden gedauert. Habe zwar stark abgenommen, fühle mich aber gut. Übrigens, was denkt ihr, habe ich am Ende des Weges gefunden, nach 1500 Kilometer, Schweiss, viel Freude, manchmal auch Schmerzen? Ganz im Süden, an einem stillen, einsamen Kap? Einen Friedhof! Das Leben hat Humor!

Am Ende der Reise war mein Japanisch oft nicht gut genug, um die Reise zu erklären:
Netter Japaner: Sieh an, ein Pilger! Woher kommen sie denn?
Ich: Aus der Schweiz, aber gerade jetzt laufe ich von Aomori, vom Norden bis in den Süden.
Netter Japaner: Aha, dann sind sie also geschäftlich hier?
Ich: Öh, eher nicht, also nein, zu Fuss, öh, ich zeige es ihnen auf der Karte.
Netter Japaner: Und wie lange läuft man da etwa?
Ich: 2, 3 Monate.
Netter Japaner: So lange?! ja aber dann trödelt man, gell? Mit fotografieren und so? Und wohin laufen sie heute?
Ich: Nach Tōon (das sind noch 15 Kilometer).
Netter Japaner: Was! Bis nach Tōon! Zu Fuss?! Das geht doch nicht, unmöglich! Nehmen sie hier noch etwas zum Trinken mit! Und alles, alles Gute!

Hier noch ein Beispiel: Als ich vor einigen Tagen im Hotel ankam, fix und fertig, war da eine sehr alte Frau. Die hörte sich meine Geschichte an, nickte ein paar Mal, sagte dann, sie sei vor 26 Jahren auch durch Japan gelaufen, aber von ganz oben bis ganz unten, also mit den Inseln Hokkaidō und Kyūshū, 2500 Kilometer, pro Tag 40 Kilometer. Ich, doch recht müde, dachte mir, Respekt, heute ist sie vielleicht 80, damals also 54 Jahre alt, durch ganz Japan, mit eine Durchschnitt von 40 Kilometer pro Tag… und ein wenig war ich, wie sagt man? getränkt? enttäuscht? Auf jeden Fall ein Gefühl, auf das man nicht so stolz ist. Am Abend treffe ich die Frau wieder. Wir reden über den nächsten Tag, ich möchte am Hafen die Fähre nehmen, sie rät mir den Zug, der fährt in 30 Minuten direkt bis dort. Lieber nicht, sage ich, ich laufe. Da stockt sie, schaut mich lange an, gerade ins Gesicht, versteht endlich, und senkt den Blick. Das grösste Lob, das ich bekommen habe auf der Reise.

Aber ein unverdientes (ich wollte ihr das sagen, habe aber die Worte nicht gefunden): ich bin auch Zug gefahren, meistens aus gutem Grund. Ausser einmal, in Niigata: war da lange in diese grosse Stadt reingelaufen, durch enge Strassen, mit vielen lauten Lastwagen, es war einer der heissesten Tage der Reise, mit Kopfschmerzen von den Abgasen, und bei Rauslaufen aus der Stadt wollte ich nicht mehr, habe den Zug genommen. Die Herz-Sutra, ein schönes Gedicht der Zen-Buddhisten, sagt: ‚Alle Dinge sind in Wahrheit leer. Nichts entsteht und nichts vergeht. Nichts ist rein, nichts ist unrein.‚ Wobei: an einem strahlenden Morgen, durch die Reisfelder von Japan zu laufen, einzuatmen, auszuatmen, das ist schon nahe dran, ziemlich rein.

Danke an alle, es war eine schöne Zeit. Danke an Junko – meine geliebte Frau – und auch an die Kinder für eure Hilfe und Geduld. Danke an alle Freunde & Leser, euer Feedback hat mich sehr motiviert. Und danke an Japan, schönes Land!

Ich freue mich jetzt auf ein paar Tage Familienferien, und dann auf die Schweiz, Freunde, Arbeit. Habt bitte etwas Geduld mit mir, es wird ein paar Tage brauchen, bis ich akklimatisiert bin. Einige Sachen muss ich mir erst wieder abgewöhnen: Verbeugen zur Begrüssung, oder entschuldigen, wenn ich mich bedanken möchte. Auch sonst gehen vielleicht 3 Monate Wandern nicht spurlos an einem vorüber?

      

         

        

      

16.10. – Grenzgänger 
Zu Fuss: 1325 Kilometer. Mit dem Zug, Bus etc.: 265 Kilometer und eine Überfahrt mit der Fähre.
In den letzten 5 Tagen wollte ich etwas mehr laufen, die vorgesehene Strecke war 175 Kilometer lang. Die Spitze 41 Kilometer, das entspricht etwa dem Weg von Wettingen nach Schaffhausen. Ich wollte die 3 Monate meiner Reise langsam angehen, mich dann steigern, am Ende, also jetzt, die langen Distanzen laufen, um das Ziel zu erreichen. Und? hat es geklappt?

Zuerst habe ich den Tagesablauf umgestellt, bin noch früher ins Bett, früh losgelaufen und habe Mittagspause gemacht. Zudem weniger getrödelt, nicht mehr links und rechts ein schönes Haus fotografiert oder einem Bauern bei der Arbeit zugesehen. So hatte ich immerhin die Zeit, die Distanz zu laufen. Zudem bin ich öfters auf Hauptstrassen gelaufen, da muss man weniger navigieren und denken, hat in der Regel ein Trottoir. Man sieht und erlebt so etwas weniger, klar, aber ich habe mir diese 5 Tage ganz bewusst fürs Laufen reserviert, erlebt habe ich beileibe genug!

Den Plan konnte ich umsetzen, auch wenn: der letzte Tag, heute, war anstrengend, 35 Kilometer, dazu 1000 Meter hoch und wieder runter. Die Leistungsgrenze habe ich nicht erreicht, aber am Ende war es kein Spass mehr. Für erfahrene Wanderer und Pilger unter euch Lesern ist das vielleicht nicht so viel & sicher nichts Neues: Mich als Anfänger hat es positiv überrascht und motiviert zu erleben, wie weit man an einem Tag laufen kann. Zu Fuss vorwärts kommt. Ein guter Freund sagte mir einmal: ‚Geradeaus laufen kann man ewig: noch ein Schritt geht immer.‘ Das war mein Mantra die letzten 5 Tage.

Bisher habe ich keinen anderen Fernwanderer oder wandernden Pilger gesehen. Pilger schon: auf der Insel hier gibt es einen berühmten Weg, der 88 Tempel miteinander verbindet. Bei einem habe ich eine grosse Pilgerreisegruppe gesehen. Die kamen mit dem Bus, jeder hatte eine weisse Weste, eine Pilgertasche und einen schön verzierten Stock. Ihr Reiseführer war streng, weniger Hirte mehr Lageraufseher: zuerst zum Tempel, beten, dann singen, Pilgerpass abstempeln, Tee trinken, und hopp-hopp zurück zum Bus. Ich weiss nicht, wie viele Tempel die Gruppe am Tag schafft? vielleicht 10? Auf jeden Fall funktioniert deren Pilgerreise: alle waren glücklich, haben viel gelacht, waren auch sehr freundlich zu mir.

      

Hier hat es gerade jetzt viele Erntedankfeste. Dabei werden grosse Wagen vom Dorf in die Stadt geschoben und getragen – in einigen sitzen gar Trommler – gefolgt von kleinen Lastwagen mit Proviant (Bier). Ich glaube am Ende treffen sich alle Wagen an einem Flussufer, habe den Treffpunkt aber noch nicht ausmachen können. Die Kondition der Teilnehmer ist erstaunlich: In der Nacht konnte ich bis 4 Uhr morgens die Wagen und ihre Trommler hören, und am nächste Morgen um 8 waren schon wieder welche unterwegs. Das Fest dauert drei Tage, bereits am frühen Morgen des ersten Tages hat mir jemand ein Bier angeboten.

      

Japan ist zurecht stolz auf seine Sicherheit, es gibt die oft erzählte Geschichte eines auf der Strasse verlorenen Portemonnaies, das man am nächsten Tag genau da wieder finden kann. Und tatsächlich, ich habe das erlebt, habe auf der Strasse, vor einem grossen Bahnhof, ein Portemonnaie gefunden, andere haben es sicher auch gesehen. Ich stand lange davor, habe viel überlegt, was ich machen soll: aufheben, zur Polizei bringen, dem Besitzer schicken… Am Ende habe ich es liegen lassen, ich glaube so wird es in Japan am besten wiedergefunden.

      

11. Oktober – Über Japan
Zu Fuss: 1150 Kilometer. Mit dem Zug, Bus etc.: 265 Kilometer und eine Überfahrt mit der Fähre.
Ein letztes Mal noch die Bären: Es gibt sie wirklich, Junko hat mit einem Tierarzt gesprochen, der sie beruflich betäubt, untersucht, auch als Wanderer dann und wann gesehen hat. Es gibt etwa 6’000 Kragenbären und 3’000 Braunbären in Japan, sie sind scheu, eine Bärenglocke macht Sinn. Etwa ein Dutzend Menschen werden im Jahr angegriffen, einer stirbt dabei. Durch einige Bärengebiete bin ich gelaufen, durch die in diesem Artikel erwähnte Stadt zum Beispiel. Wegen dem Taifun musste ich einen Weg auslassen, und gerade da hätte es viele Bären gehabt. Keine Angst: Seit einigen Tagen habe ich die ‚Gefahrenzone‘ verlassen, werde keine Bären mehr sehen.

In Japan frühstückt man anders als bei uns: Tee, Reis mit getrockneten Algen, Fisch, eingelegtes Gemüse und Pilze, Suppe und Ei. Und Nattō, fermentierte (manche sagen auch verfaulte) Sojabohnen. So sehr ich Japan liebe, an dieses Frühstück werde ich mich nicht mehr gewöhnen. Wenn ich in einem Hotel (mehr aus Anstand) doch frühstücke, dann nehme ich etwas Reis mit Algen und Fisch und die Suppe, die schmeckt. Den Rest lasse ich stehen und lächle alle an – und die verstehen immer, was ich sagen möchte.

Im Tsunami-Gebiet beginnt langsam wieder das Leben, im Fernseher zeigt man wie Geschäfte neu eröffnen, Leute in ihre Dörfer zurückkehren. Hat man bei uns vielleicht eher Fukushima wahrgenommen, ist der Tsunami für sehr viele Menschen entscheidend gewesen, im Norden Japans war der letzte so grosse am 9. Juli 869. Zur Atomkraft: Viele, die Mehrheit der Japaner unterstützen einen mittelfristigen Ausstieg, wie ihn Deutschland oder die Schweiz planen. Es gibt auch andere, die Angst vor den Kosten und der Abhängigkeit vom Erdöl haben. Die aktuelle Regierung will es beiden Lagern irgendwie recht machen, hat einen Ausstieg bis 2030 mit ein paar Hintertüren beschlossen und auch ein Einspeisegesetz, das alternative Energiequellen finanziell sehr unterstützt. Was mich in Japan immer wieder (und immer mehr) beeindruckt: Wenn ein Konsens gefunden wurde (was lange gehen kann & ich glaube zur Atomkraft noch nicht geschehen ist), wird es gemacht: Man hat nach dem Erdbeben festgestellt, dass die hier typische Architekt der Schulhäuser zu unsicher bei extremen Beben ist: und schon sieht man viele, die mit Betonpfeilern oder Metallstützen abgesichert sind.

Für alle die es sich überlegen: Ja, in Japan Ferien machen ist sehr empfehlenswert. Es bietet zwei Dinge, die man selten vereint antrifft: Abenteuer und Sicherheit. Man kann sich in Japan jederzeit und überall aufhalten, und ist sicher. Klar, es gibt immer Ausnahmen, aber man muss schon sehr grosses Pech haben, damit einem etwas bleibend Negatives passiert. Der andere Vorteil, die andere Dualität, die Japan aufhebt: Es hat eine sehr vielschichtige Kultur, Tempel, Museen, Geschichte. Aber daneben ist auch Speis und Trank, das Nachtleben, der Spass da. Vielleicht nicht im ganz kleinen Dorf, und es braucht etwas Überwindung, aber es lohnt sich. Diese Vierfaltigkeit aus Abenteuer und Sicherheit und Tiefe und Seichte kenne ich von wenig anderen Ländern.

Ein letztes Wort noch: Der Salary Man, weisses Hemd zerknitterter Anzug, Aktentasche aus Kunstleder. Verdient mehr schlecht als recht, fährt eine Stunde mit dem Zug zur Arbeit, bekommt von seinem Hausdrachen Taschengeld und überlegt jede freie Minute wie er die teuren Hobbys seines verwöhnten Sohnes und die Privatschule seiner gelangweilten Tochter bezahlen kann. Der Salary Man also. Es gibt über ihn Statistiken: Wie viel Taschengeld er bekommt, wie oft in der Woche er nach der Arbeit mit seinen Freunden essen und trinken gehen darf (oder mit seinem Chef muss), wie viele Überstunden er macht: Früher, in der japanischen Hochkonjunktur, hatte er extrem viel Arbeit, bekam die Überstunden gut bezahlt und daher viel Taschengeld, war nach der Arbeit noch oft und verdient in einer Bar. Heute gibt es kaum (bezahlte) Überstunden, weniger Lohn, weniger Taschengeld, und nur noch einmal die Woche ‚Ausgang‘. Es gibt jetzt Werbesendungen, die sagen ‚Auch zu Hause trinken macht Spass!‘ Da sieht man dann eine perfekte Hausfrau, die ihrem traurigen Mann lächelnd einen Drink zubereitet -und der trinkt ihn selig. Der Salary Man!

                

        

7. Oktober – Zwischenspurt  
Zu Fuss: 1060 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 265 Kilometer.
Nach dem Taifun letzte Woche bin ich dem See Biwako entlang gelaufen. Er ist etwa so gross wie der Bodensee, hat schöne Strände und einen netten Weg am Ufer – und einen unter den Bahngleisen (siehe Bild unten links). Dann ging es durch das Nadelöhr Japans, hier kommen ein halbes Duzend Zuglinien und 3 Autobahnen und Schnellstrassen zusammen: wer von den nördlichen Zentren Tokio, Yokohama und Nagoya in den Süden will, nach Osaka, Kyoto und Kobe, kommt hier durch. Oder nach Nara, der Heimatstadt von Junko, meiner lieben Frau; die letzten 20 Kilometer dahin sind wir gemeinsam gelaufen. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, hier Strassen und Häuser wiederzuerkennen, langsam zu verstehen, dass die Orte, die man bisher nur mit dem Flugzeug oder Schnellzug bereist hat, wirklich miteinander verbunden sind.

         

Meine Achillesferse ist übrigens die Achillessehne und die Ferse. Links und rechts schmerzen sie nun schon seit Wochen, auch zwei Tage Pause in Nara haben keine Besserung gebracht. Da gibt es nur eine Medizin: Zähne zusammenbeissen und lächeln.

Heute bin ich durch Yamato gewandert, die Wiege Japans. Von hier kommt der Stamm und die Kultur, die seit rund 1500 Jahren das Land prägen. Jetzt ist es ein grosses, zusammenhängendes Siedlungsgebiet – ohne schlimme Erdbeben, Vulkane und etwas geschützt vor Taifune und Tsunamis. Auf der Karte und beim Wandern überraschen die vielen kleinen Seen und Wassergräben. Es sind alte Gräber, Überreste von Befestigungsanlagen und Becken für die Goldfisch-Zucht. Wobei, Letzteres war vielleicht auch mal Ersteres.

      

Ich war in Japan nun zwei Mal beim Friseur. In der Schweiz bin ich froh, wenn es schnell geht: Waschen, kurz schneiden, fertig. Hier war es anders: Zuerst waschen inkl. Kopfmassage, und das zwei Mal, von unterschiedlichen Friseuren, mit ihrer eigenen Technik. Dann nochmals eine Massage: Kopf, Schulter, Arme. Dann schneiden, klar & sehr gut. Wieder waschen, massieren, und dann föhnen – und das alles für mein bisschen Haare! Und das war das Kurzprogramm, zumindest habe ich darum gebeten. Andere Beispiel für die japanische Service-Kultur: hat man Geburtstag und geht in ein Restaurant, kriegt man nicht nur einen Napfkuchen, mit Kerze drauf, nein: zuerst noch ein Saft, und dazu ein gleich vor Ort gedrucktes Foto mit allen Freunden. Oder beim Tanken: Da wird einem der Aschenbecher geleert und geputzt, die Scheiben sowieso. Bezahlt wird aus dem Auto raus, der Tankstellenwart holt das Wechselgeld und bringt es dem Kunden. Soweit ich verstehe, erwartet der Japaner diesen intensiven Service auch, erachtet ihn als selbstverständlich.

Dann und wann laufe ich durch Städte, die am Reisbrett geplant wurden. Einige sind 10, 20 Jahre alt, bei anderen sind erst die (grosszügigen) Strassen fertig, das Land vorbereitet und wenige Häuser im Bau. Die Häuser sind alles Einfamilienhäuser und sehen alle anders aus, so wirkt die Stadt gar nicht steril. Im Zentrum steht immer ein Bahnhof, und dort ein Fahrradparkplatz, da Pendler vom nahen Zuhause zum Bahnhof das Fahrrad nehmen, um dann mit dem Zug zur Arbeit zu gehen. Neben den Restaurants für nach der Arbeit finden sich am Bahnhof auch kleine Spitäler, Gesundheitszentren. Und Betreuungshäuser für Ältere: Hier können Pflegebedürftige den Tag verbringen. Sie werden morgens mit einem kleinen Bus bei ihren Familien abgeholt, und Abends zurückgebracht, verbringen den Tag zusammen mit Freunden und Pflegern. Berufstätige können sich so am Abend und nachts um ihre Angehörigen kümmern – tagsüber sind sie froh um diese Unterstützung. Es gibt übrigens auch solche Einrichtungen, bei denen Kinder und Alte zusammen und voneinander betreut werden.

      

      

30. September – Taifun   »um Bilder ergänzt«
Zu Fuss: 930 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 260 Kilometer.
Den schönen Weg über den Berg konnte ich heute nicht laufen, bin mit dem Zug gefahren. Vielleicht hätte ich die Strecke noch knapp vor dem Eintreffen des Taifuns geschafft, der kam etwa um 3 Uhr Nachmittags an. Aber die Entscheidung war richtig, das Risiko zu gross. Ich freue mich hier in einem stabilen Hotel zu sein, es liegt direkt an einem See, so erlebe ich diese Naturgewalt sehr intensiv. Das Zentrum des Taifuns ist gerade jetzt 150 Kilometer entfernt, der Wind noch hier bis zu 50 Knoten schnell. Im Fernseher wird ständig darüber berichtet; alles ist sehr gut organisiert, man sieht immer wo der Taifun ist und weiss auf die Stunde genau, wann er zu einem kommt, geht dann in Sicherheit für vielleicht 10 Stunden – und alles ist vorbei.

Hier Bilder vom Morgen nach dem Taifun, am Nachmittag war das Land schon weitgehend aufgeräumt:
      

29. September – Traumland 
Zu Fuss: 930 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 235 Kilometer.
Die letzten Tage habe ich die urbane Wanderung fortgesetzt, über Felder, durch Dörfer und Städte. 70% von Japan ist steil und waldig, wild und nicht besiedelt. Der Rest, die Täler, dafür um so mehr. Ich übernachte hier nicht mehr in Gasthäusern, sondern in einfachen Hotels. Davon gibt es zwei Typen: Diejenigen in denen man heiraten kann und die eki-mae. Eki-mae heiss ‚vor dem Bahnhof‘, dort stehen diese Hotels. Sie haben vielleicht 9 Stockwerke, gehören zu einer Hotelkette, alle sind sehr sauber und gut organisiert. Zum Beispiel zahlt man immer im Voraus und so gibt es am Morgen kein Warten beim Aus-checken. Die Zimmer sind klein – das heute misst 2.5 mal 4.5 Meter – aber haben alles nötige, sogar eine winzige Badewanne. Manche Hotels haben noch ein öffentliches Bad, für mich auch wichtig ist die Waschmaschine und der Internetanschluss. Die Hotels zum Heiraten heissen Prince, Palace, Park und Grand Hotel; die Zimmer und Preise sind ähnlich, dafür gibt es noch einen Festsaal und überall Blumen und Schnickschnack. Auch Ok.

Vorgestern sehe ich beim Laufen am Horizont eine grosse, goldige Statue, ich bin etwas verwundert, schaue auf der Karte, finde aber nichts. So laufe ich ein paar Kilometer bis dort hin. Die Statue steht auf einem Hügeln, ist Teil einer Anlage, davor ein grosser Parkplatz, und ein gewaltiges Hotel, aber alles leer, alles verlassen, bis auf drei Männer beim Eingang. Das will ich genauer wissen und gehe rein: Es sieht hier aus wie eine Mischung von buddhistischem Tempel, Vergnügungspark und Hauptquartier einer wirren Sekte, und es hat auf der ganzen Anlage keinen einzigen Besucher. Die Sachen, die man besichtigen kann, sind alle übergross und goldig und kitschig. In den Hallen brennt das Licht nicht, alles ist halbdunkel und mächtig unheimlich: Einmal laufe ich durch einen kurzen, dunklen Gang, komme dann in einen finstern Raum und stehe vor einem Berg kleiner Statuen. Da die Wände mit Spiegel verkleidet sind, alles etwas gruselig und ich mich ja ohnehin in den Fängen einer wahnsinnigen Sekte wähne, bin ich doch erschrocken. Später habe mit meinem bisschen Japanisch und dem Internet herausgefunden, dass es tatsächlich ein buddhistischer Vergnügungspark war, in der japanischen Hochkonjunktur gebaut und dann gefloppt. Die goldene Statue ist übrigens 73 Meter hoch.

Morgen möchte ich die Berge überqueren, weg von der Küsten, ins Zentrum von Japan an den Biwako-See. Allerdings ist für die nächsten Tage ein Taifun abgekündigt, von Süden zieht er heran. Ich habe noch nie einen Taifun erlebt, verlasse mich da ganz auf mein Logistikteam (Junko und die Kinder). Wenn er kommt, werde ich pausieren müssen, die Windgeschwindigkeit hatte heute Spitzen von 70 – m/s! Im Fernsehen wird davor gewarnt, man soll die Blumen und den Schlauch reinbringen. Dazu muss man wissen: Vor jedem japanischen Haus, naja, pro Tag sehe ich vielleicht eine Ausnahme, stehen zwei Dinge: Blumentöpfe und ein Schlauch. Ich glaube der Schlauch ist beim Neubau schon dabei, ich habe zumindest noch nicht bezogene Häuser gesehen, mit dem typisch blauen Schlauch davor.

Japan ist schon ein aussergewöhliches Land: ich bin jetzt fast 2 Monate hier und habe niemanden streiten oder schreien hören. Hier ist nichts laut (ausser die Lastwagen), nichts stinkt (ausser die Lastwagen), alles gut organisiert. Manchmal erscheint es mir fast zu streng und zu reglementiert, aber das wird schon seine Gründe haben. Was sehr auffällt ist der unterschiedliche Zugang zu Häusern, Besitz ganz allgemein: Man baut sie neu, sehr schön! nutzt sie vielleicht 30 Jahre bis sie alt und vergammelt sind – und reisst sie dann ab und baut sie wieder neu und schön. Der Ise-Schrein beispielsweise, der heiligste Ort Japans, und herrlich schön, wird alle 20 Jahre komplett neu gebaut, nächstes Jahr zum 62. Mal. Vielleicht kommt diese Einstellung von den Naturgewalten, die Japan erlebt? Vulkane, Taifune, Erdbeben? Der Vergänglichkeit, die dadurch wohl jeder in seinem Menschenleben einmal erfährt?

      

       

         

      

24. September – Extraausgabe 
Zu Fuss: 810 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 210 Kilometer. Ausländer: Viele, habe heute 3, 4 amerikanische Reisegruppen gesehen, die mit ihrem unvergleichlichen Charme den berühmten Garten von Kanazawa besichtigt haben.

Beim letzten Tagebucheintrag habe ich noch etwas vergessen: Letzte Woche war ich bei einer befreundeten Familie zum Essen eigeladen. Hat köstlich geschmeckt, sogar die (wenigen) Gänge, die Ausländer normalerweise nur schwitzend essen können. Junko – meine geliebte Frau – konnte nicht dabei sein, es war zu weit weg. Aber sie war doch dabei: ich habe das Handy mit dem Internet verbunden und sie dann mit FaceTime, das ist wie eine Videokonferenz, angerufen. Am Ende sassen wir zu dritt am Tisch, und an der vierten Ecke stand das Handy mit Junko drin. So haben wir den Abend miteinander wie normal gesprochen. Ich kann nur jedem empfehlen, das mit Freunden zu versuchen, es funktioniert bestens. Auf dem Bild unten links ist sie auch mit drauf, im Handy eben. Nur mitessen konnte sie nicht…

Heute habe ich Kanazawa besucht, eine sehr intensive Stadt, schöne Gärten, viele Museen, ein neues, kaltes Bahnhofsquartier. Dabei habe ich auch die neuen Schuhe eingelaufen, die alten, geliebten sind verbraucht: Es bricht mir das Herz, aber ich werde sie wohl im Mülleimer des Hotels zurücklassen.

      

   

      

22. September – Nach dem Regen 
Zu Fuss: 790 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 210 Kilometer. Ausländer: 13
Habe die Küstenstrasse verlassen und laufe jetzt über Felder, durch Dörfer, in kleine Städte rein und wieder raus. Es gibt hier sehr schöne Häuser (viele von Bauern), etwas kleinere (von Fischern), Neubauten (an der neuen Shinkansen-Linie), und auch unbewohnte: manche Strassenzüge scheinen verlassen, die Häuser verfallen. Wohnblöcke sieht man selten. Wo ich jetzt laufe, besitzen 80% ihr eigenes Haus, das durchschnittlich 180 Quadratmeter gross ist. Ein Japaner (Tierarzt) hat mir erzählt, er hat endlich, mit 45 Jahren, sein Haus ganz abbezahlt (gut). In dem lebt er mit Frau und 2 Kindern, Schwiegereltern (weniger gut) und vielen Haustieren. Interessant: Häuser hier haben keinen Keller.

          

Ich habe keine Karte dabei, nur das Navigationssystem vom Handy. Funktioniert wunderbar. So kann ich auch kleine Gassen, Feldwegen und Abkürzungen nehmen, ohne in eine Sackgassen zu geraten. Auch finde ich damit am Abend punktgenau das Hotel. Falls mal der Empfang fehlt (was in Japan nur auf einsamen Bergen vorkommt, sonst habe ich immer besten 3G-Empfang) habe ich noch eine Karte gespeichert, zwar in schlechter Qualität, aber dafür immer verfügbar.

Gestern habe ich ein ‚Guerilla-Regen‘ miterlebt; so nennen die Japaner ein unerwartet starkes, lokales Gewitter. Nach wenigen Minuten stand das Wasser knöcheltief. Die Gischt der (grossen) Lastwagen brach wie eine Welle über mir zusammen. Etwa 30 Minuten nur, aber, oh war ich nass, nass. Vollständig, bis in die letzte Banknote im Portemonnaie, die Schuhe ohnehin, aber auch unter dem Regenschutz, nass halt. Was für ein Spass!

Heute bin ich wieder über einen kleinen Berg, wie immer in Japan sind die einsam und bewaldet. Kurz vorher treffe ich zwei Bauern, die warnen mich vor Bären, und erstmals auch vor Affen. Ok, das ist ein Dilemma: soll ich die Bären mit meiner Glocke warnen, und dafür die Affen anlocken? Oder im Stillen laufen? Ich entscheide mich für die Glocke und einen Stock in der Rechten. Ah, es läuft sich anders mit einem Knüppel in der Hand und natürlichen Feinden hinter jedem Baum! Oben auf dem Berg sitzt überraschend eine junge Frau und liest unvorsichtigerweise in einem Buch. Ich frage sie, ob es hier Bären gibt? Nein, sagt sie. Und Affen?! Auch nicht. Ja, gibt es denn hier irgendetwas! frage ich, Knüppel in der Hand, Bärenglocke um den Hals. Ja, sagt sie mit einem feinen Lächeln, Chipmunks, Streifenhörnchen.

Sie war das einzige Lebewesen (ausser natürlich den Teufelsmücken), das ich auf den rund 10 Kilometer über den Berg gesehen habe. Wieder in einem Dorf, frage ich da einen Mann, ob es hier nun Bären gibt oder nicht: Ja, meint er viele. Und Affen? Nein, keine…

      

      

14. September – Wunder
Zu Fuss: 640 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 200 Kilometer. Ausländer: 9
Wundern kann man sich in Japan oft: Über ferngesteuerte Helikopter, mit denen die Felder gespritzt werden; über sprechende WCs; oder Getränkeautomaten, mit eingebautem Glücksspiel (einmal habe ich eine Cola gewonnen!), Städte mit Rauchverbot, nicht innen, aber aussen, auf den Strassen; oder über ständige (zum Glück) kleine Erdbeben.

Und über technische Wunderwerke: Hier am Meer gibt es meistens 3 Strassen und eine Zuglinie. Der Zug feiert sein hundertjähriges Jubiläum, war und ist eine beeindruckendes Werk, meist doppelspurig durch viele kleine und grosse Tunnel der Küste entlang. Dann die alte Küstenstrasse, auf der laufe ich wenn immer möglich, ohne Tunnel schlängelt sie sich der Küste entlang. Daneben, oft darüber, die neue Küstenstrasse, sie führt über Brücken, Deiche, auch mal durch Tunnel, ist sehr stark befahren. Und noch weiter im Landesinnern, im wahrsten Sinne des Wortes, im Berg, die kostenpflichtige, private Autobahn. Die beeindruckt am meisten, es ist nicht ein langer Tunnel, aber viele duzende, einige Kilometer lange. Die Spur erscheint dann kurz, überquert ein Tal auf einer gewaltigen Brücke, und verschwindet wieder im Berg. An zwei, vielleicht 50 Kilometer langen Bereiche der japanischen Westküste ist die Autobahn fast komplett im Berg. Von der ersten Strasse, über den Zug, die neue Hauptstrasse bis hin zur unterirdischen Autobahn: 4 beeindruckende Bauwerke.

Über drei ganz kleine, private Wunder durfte ich mich in den letzten Tagen freuen:

  • In einem Restaurant merke ich beim Versuch zu zahlen, dass ich das Portemonnaie im Hotel vergessen habe. Ich probiere das zu erklären, sage dem netten Barkeeper, ich lasse das Handy zur Sicherheit da, gehe schnell ins Hotel und hole Geld. Da schaltet sich seine Kollegin ein, und sagt in nettestem Englisch: ‚I trust you!‘. (Bisher habe ich mit keinem Japaner Englisch gesprochen.)
  • Am nächsten Tag bin ich am Wandern, und merke, dass ich vergessen habe Wasser mitzunehmen. Nicht schlimm, es sind ’nur‘ 2 Stunden ins nächste Dorf, ich werde es überleben. Aber mit der Zeit merke ich schon, es ist eine sehr heisser Tag, vielleicht 33° und die Sonne brennt & die Haut wir schrumplig – ich habe auch schon 6kg abgenommen auf der Reise… Noch später, ich quäle mich, sehe ich eine Sägerei und denke mir, ich gehen da nach einem Glas Wasser fragen. Als ich dort bin, finde ich aber niemanden und auch keinen Wasserhahn, also weiter. Ich passiere das Haus und drehen mich noch mal kurz um, und dort, in einer Ecke, steht ein Getränkeautomat!
  • Ich laufe schon 15 Kilometer, mit guter Laune, jetzt auf der Hautpstrasse, habe auf der Karte gesehen, dass da bald ein Tunnel kommt, aber auch, dass es ein winziger Weg gibt um den zu umlaufen. Dann kommt der Tunnel, kein Durchkommen, weil kein Trottoir, und der Kleine Weg? Gesperrt! Und ein grosses Schild, das vor Absturzgefahr warnt. Und wenn ich eines hier in Japan gelernt habe: Wenn Japaner mal ‚Nein‘ sagen, dann heisst das ‚Nein‘. Also alles wieder zurück, zum nächsten Bahnhof, das sind vielleicht 6 Kilometer. Ok, damit muss man rechnen, trotzdem… Schon nach ein paar hundert Meter kommt mir ein Bus entgegen, seine Richtung stimmt, ich winke ihm, er hält an. Ich frage, ob er den Tunnel passieren wird? ‚Nein, er biegt gleich ab und fährt in die andere Richtung‘. Schade, aber Ok, danke. Er fragt, wohin ich möchte? Auf die andere Seite des Tunnels, aber der ist gefährlich! Gut, er fährt mich, sagt er, bitte einsteigen. Gesagt, getan und schon bald sind wir durch den (recht langen) Tunnel durch. Er stellt mir viele nette Fragen, schenkt mir auch noch ein Eistee. Und fährt dann in einem Höllentempo wieder zurück, durch den Tunnel, zu seiner Arbeit.

PS: Morgen treffen ich wieder, zum zweiten Mal, meine Familie!

Nachtrag: In diesem Gebiet führen noch zwei Wege der Küste entlang! Über 32 Kilometer gibt es einen Radweg, sagenhaft, mit 7 Tunnel, jeder etwa 400 Meter lang, und vielen Brücken; bis auf ein paar kleine Abschnitte komplett getrennt von der Hauptstrasse und gepflegt und genutzt. Für mich war der Weg natürlich ein Segen, gleich 32 Kilometer konnte ich ohne Sorge & Vorsicht laufen. Und hier wird ein neuer Shinkansen gebaut, auf den Karten noch nicht verzeichnet, aber in echt ist die Trasse fast fertig. Sie wird ab 2015 Züge von Nagano nach Kanazawa führen, die werden für diese 228 Kilometern etwa 70 Minuten brauchen.

         

      

11. September – Häuser-Meer 
Zu Fuss: 570 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 150 Kilometer. Ausländer: 9
Nach 4 Wochen im einsamen Norden in Japan, und am Meer, bin ich jetzt in Niigata. Für japanische Verhältnisse immer noch Provinz, man ist hier stolz auf Reis und Sake, aber doch eine Millionenstadt. Am auffälligsten: hier wird wieder gebaut (im Norden habe ich kaum eine Baustelle gesehen) und es hat junge Menschen. Alleine gestern vor und in einem McDonalds, habe ich mehr Mädchen und Jungen gesehen, als in den letzten Wochen zusammen – und zum ersten Mal auch wieder einen McDonalds.

In der Zwischenzeit habe ich auch zwei weitere Ausländer gesehen: Im kleinen Städtchen Tsuruoka, spät am Abend im Hotel, der Lift geht auf, da steht einer drin! Und gestern Abend in einer ganz kleinen Kneipe versteckt in einer Seitengasse (letztes Bild unten rechts), da kommt auch einer rein. Ein Franzose, Student, wohnt seit einem Jahr in Niigata, arbeitet in eben dieser Bar. In beiden Fällen waren wir alle überrascht.

Oft bekommt man im Gasthaus ein kleines Geschenk zum Abschied, ein Tuch, oder eine Kleinigkeit zum Essen. Das ungewöhnlichste Geschenk war ein grosser, gefrorener und vakuumverpackter Fisch! Die Hotels sind durchweg alle gut und spannend: einmal habe ich z. B. in einer ehemaligen, umgebauten Schule übernachtet. Vielen herzlichen Dank an Junko – meine geliebte Frau – die alle Unterkünfte organisiert.

Das Wetter ist hervorragen, erst an zwei Tagen musste ich im Regen laufen, sonst war es sehr heiss (32°, manchmal heisser), so wie ich es gerne habe. In Japan geht die Sonne kurz nach 5 auf und um 6 Uhr abends wieder unter, so ist es früh, ab 11 Uhr heiss. Ich versuche bis dann schon die Hälfte des Weges zurückgelegt zu haben. Bis 25 Kilometer habe ich mich schon gut ans Laufen gewöhnt, bin die Distanz auch schon mal an einem Stück und ohne Pause gelaufen. Die maximale Distanz bisher war 32 Kilometer (entspricht dem Weg von Wettingen ins Restaurant Waldhaus im Schwarzwald), das war (noch?) zuviel.

Ah, noch eine nette Geschichte: Ich laufe an einem Restaurant vorbei, das heisst Steak & Hamburg. Naja, denk ich mir, Hamburg, vielleicht fehlt da noch etwas. Ein paar Meter weiter sehe ich ein kleines Café, das heisst ‚Bremen‘. Was für ein feiner Humor, oder!?

PS: Es gibt in Japan ハンバーグ (ausgesprochen hanbaagu, Hacksteak) und ハンバーガー (hanbaagaa, ‚unsere‘ Hamburger. Das Restaurant serviert ersteres, der Name hat somit schon was für sich.

      

      

      

         

3. September – Mittendrin
Zu Fuss: 420 Kilometer. Mit dem Zug, Schiff etc.: 150 Kilometer.
Vorgestern bin ich auch Schiff gefahren: wir haben uns die Schuhe dazu aus- und Schwimmwesten angezogen, sind dann in ein Boot gesessen, das ganz sauber mit Reisstrohmatten ausgelegt war. Während der Fahrt hat ein alter Mann Geschichten erzählt und Witze (wohl auch über mich), viel gesungen, alle haben dazu im Takt geklatscht. Es gab einen Zwischenstopp, da konnte man – direkt aus dem Boot heraus – Essen und Trinken kaufen, und gleich Picknick machen. Sehr interessant!

Das letzte Stück musste ich dann wieder zu Fuss gehen, die Strasse war eigentlich viel zu gefährlich dafür: Schmal, viele Lastwagen, direkt am Fluss, und so ohne Platz zwischen Leitplanke und Fahrbahn. Einmal in einer Rechtskurve (Japan hat Linksverkehr, ich laufe daher immer rechts) kommt mir ein grosser Lastwagen entgegen, schneidet die Kurve. Ich dachte schon: Jetzt ist es aus, weg mit dem Löffel! Ich muss in Zukunft unbedingt die Route besser planen, auch mal zurückgehen wenn es nicht geht.

Gestern habe ich es so gemacht; bin viel über Reisfelder gelaufen, auch mal ganz ohne Weg. Nach etwa 5 Stunden war ich am Ziel, etwas zu früh (ich hatte ein Zimmer im riesigen Haus eines Priesters, Bonzen) und wollte ’noch schnell‘ den berühmten Tempel hier anschauen. Hat dann doch 2 Stunden gedauert: der Tempel lag 2446 Treppenstufen weiter oben auf einem Berg. Ich glaube viele waren überrascht, eine Familie mit 2 kleinen Kindern hat es bis hoch geschafft, was für eine Leistung!

Ein sehr lohnender Aufstieg übrigens: der Tempel gehört zu einer rund 1000 Jahre alten, asketische Sekte, welche die beiden Religionen der Japaner vereint: Shintoismus (die Naturreligion, für die Geburt und die Ahnen) und Buddhismus (für Heirat & Begräbnis). Man sieht das noch heute schön, die Symbole des Shintoismus, das Torii und der Schrein, und der klassische Buddhistische Tempel sind hier eng zusammen.

         

            

31. August – On the Road
Die letzten 5 Tage bin ich auf allen möglichen Wegen 125 Kilometer vom einsamen Bauernhof in den Bergen in die Stadt gelaufen: Wanderwege sind schön, anstrengend, etwas verlaust. Feldwege gemütlich, aber es hat Schlangen. Überlandstrassen können laut sein, und nach ein paar Stunden stören die Abgase, habe aber in Japan fast immer ein Trottoir (genial!) und man kommt zügig voran. Am liebsten laufe ich auf asphaltierten Neben- und Quartierstrassen.

Bereits bei der Vorbereitung der Reise war klar, dass ich nicht die ganze Strecke laufen kann: Bisher war zweimal der Abstand zwischen den Unterkünften zu gross (und Zelten überlasse ich gerne den Jungen & Fitten), und gestern konnte ich zwei lange Strassentunnel nicht umgehen, und habe den Zug genommen. So habe ich bisher mit Zug, Bus, Schiff, Lastwagen (siehe unten) 140 Kilometer zurückgelegt, und zu Fuss 365 Kilometer.

         

Zwei Tunnel bin ich trotzdem durchlaufen, sie hatten ein kleines Trottoir, und waren etwas kürzer, ein Erlebnis! Bei einem Tunnel (zwei Kilometer lange und ohne Trottoir) dachte ich, es gäbe einen Umweg: die alte Strasse, die vor dem Bau des Tunnels genutzt wurde. Sie war abgesperrt, verlassen, zugewachsen, sah aus wie in einem Endzeitfilm: Einige Strassenschilder waren noch da, die Leitplanken aber abmontiert. Ich wandere als diese Strasse entlang, bis oben zum Pass, auch dort hatte es einen Tunnel, wohl nur sehr kurz, aber mit einer Metallwand verschlossen: verständlich, zur Sicherheit. Trotzdem hatte ich schlechte Laune, also den Weg (etwa 2 Kilometer) wieder zurück und Plan B: Autostopp machen, denn ein Bus fährt an diesem Ende der Welt nur ein Mal am Tag, kurz nach 9 Uhr (es war Sonntag, unter der Woche fährt auch noch einer am Abend). Ich musste recht lange warten – Ausländer mit Rucksack! und so weit ich weiss, ist Autostopp in Japan nicht üblich. Irgendwann hielt dann ein Bauernpaar an, mit ihrem ganz kleinen Lastwägelchen, wie man es in Japan auf dem Land überall sieht. Sie fragen, wie sie mir helfen könnten, ich erkläre, dass ich den Tunnel nicht durchlaufe könne, sie sagen, ich solle hinten auf den Lastwagen steigen. Und so halte ich mich gut fest und wir fahren durch den Tunnel. Keine Ahnung ob das sicher war, aber es hat Spass gemacht!

An einem heissen Tag (33°) mit viel Durst, finde ich lange keinen Getränkeautomat. Die sind in Japan eigentlich allgegenwärtig, überall wo es Strom gibt, hat es diese Automaten, auf einem Weg von 25 Kilometer sieht man vielleicht 50 oder 100. Aber in dem Dorf nicht, ich frage sicherheitshalber einen Bauarbeiter, ob er einen kennt. Ja, sagt er, etwas weiter weg; aber es ist heiss und ich bin müde… Das merkt er, bittet mich in sein Lastwägelchen (gleiches Model wie das vom Tunnel-Bauern) und fährt mich zu dem besagten Automat. Supernett! Die Geschichte geht weiter: Am nächsten Tag, etwa 25, 30 Kilometer entfernt, hält ein (jetzt grosser) Lastwagen neben mir, erst erkenne ich den Mann nicht, aber dann schon: Es ist der gleiche wie gestern und er wünscht mir viel Glück.

         

Es ist nicht ganz einfach hier eine Bar zu finden, wie wir sie kennen und schätzen: Meist isst man auch noch etwas dazu, dazu geht man in ein Isakaya (die ich sehr liebe!) – sie machen aber alleine nicht so viel Spass, weil oft jede Gruppe in einem eigenen Raum sitzt. Oder es wird leicht anrüchig, diese Bars heissen dann Snack-Bar, man zahlt etwas mehr und wird gesellig unterhalten, mit Karaoke und Komplimenten. Und dann gibt es noch American Bars, bisher habe ich zwei gefunden, und immer waren sie Treffpunkt der paar Ausländer der Region.

Ausländer gibt es in Japan wenige. Der Ausländeranteil liegt bei 1.2%, die meisten sind Chinesen und Koreaner, ‚westliche‘ Ausländer gibt es vielleicht 0.1%. und ausserhalb von Tokio, Yokohama und Kobe sind das alles Englischlehrer: in Japan gibt es seit 10 Jahren ein schönes Gesetz, gemäss dem muttersprachliche Hilfslehrer den Englischunterricht, die Aussprache der Kinder verbessern helfen. So hat also jede kleine und grosse Schule ‚ihren‘ Ausländer. Und weil das oft Australier und Iren sind, lohnt sich das Betreiben einer Bar – sagte mir zumindest eine Barbesitzerin in Yuzawa.

Aber zurück zur Snack-Bar: Einmal war ich in einem Hotel, die Besitzerin eine Hexe sondergleichen, und sie konnte leider gut Englisch. Nach dem Essen fragt sie mich, was ich vorhabe, ich sage, kurz ausgehen, vielleicht etwas trinken. Sie meint, es gäbe hier viele Snack-Bars. Ich sage, ‚Kein Interesse, bin sehr glücklich verheiratet‘. Sie ruft dann bei einer anderen Hexe an, und schlussendlich lande ich eben doch in einer Snackbar. Immerhin: ein Angestellter des Hotels begleitet mich dahin und der redet mit der Snack-Hexe und sagt ihr, dass der Ausländer (also ich) wirklich nur etwas trinken wolle. Und so war es denn auch; die Snack-Hexe war super nervös, ich hatte Spass, zumindest war es ein spannende Situation.

          

Der Soundtrack meiner Reise: Series of Dreams, von Bob Dylan.

21. August – Über den Berg
In den letzten Tagen bin ich etwa 50 Kilometer gelaufen, morgen nochmals 25, dann treffe ich für drei Tage Junko – meine geliebte Frau – und die Kinder. In den ersten drei Wochen meiner Wanderung habe ich zwei Berge überquert (Hakkōdasan und Hachimantai), mich an das Laufen gewöhnt, und an die Sprache – ich kann jetzt nicht besser Japanisch, weiss aber schon recht genau, wer mich wann & was fragen wird. Ein üblicher Tagesablauf hat sich auch eingestellt: 6 Uhr aufstehen, 7 Uhr frühstücken, 8 Uhr loslaufen. Dann etwa 6 Stunden wandern, ohne grosse Pausen, je nach Gelände zwischen 12 und 24 Kilometer. Recht früh ankommen: Baden, schreiben und Fotos sortieren, essen und schlafen.

Die letzten Tage waren einsam, heute habe ich auf dem Weg nur 3 Wanderer gesehen. Und alle möglichen und unmöglichen Insekten. Und Frösche so klein wie Grasshüpfer und Grasshüpfer so gross wie Frösche, und Schlangen. Und bisher insgesamt 7 Ausländer: 6 Amerikaner und 1 Chinese, leben alle in Tokio und waren hier im Norden im Urlaub. Aber glücklicherweise keine Bären: Ich trage wie jeder hier eine Bärenglocke, vermute aber mittlerweile, die ist vor allem für die Insekten, damit sie mich besser finden.

Die interessanteste – und kürzeste – Begegnung hatte ich vorgestern mit einem Bergläufer: nach langer Wanderung, ich bin auf dem Abstieg, rund 700 Höhenmeter, steil, steil, rennt mir ein Mann entgegen. In kurzen Hosen, ohne Gepäck, mit ganz leichten Schuhen, ohne Profil, fast wie Turner sie tragen. Auf jeden Fall rennt er mir entgegen, wohl auf den Berg, den ich gerade runterkrieche. Etwa eine Stunden später, ich immer noch auf dem Weg nach unten, mehr ein Pfad, oft auch ein kleiner Bach, jeden Schritt suchend, im Schlamm und mit schmerzenden Knien, höre und fühle ich schnelle Schritte von hinten, und wieder rennt der Bergläufer an mir vorbei, den Berg runter. Findet mühelos zwischen Schlamm und Wurzeln mit einem Höllentempo den Weg.

Fazit: Reite nicht auf einem hohen Ross durch Japan, nimm besser einen Esel.

         

       

         

15. August – Wandertage
Seit dem letzten Tagebucheintrag bin ich 100 Kilometer gewandert, kürzere Etappen, aber gleichwohl anstrengende, z. B. an einem Tag 600 Meter rauf und 800 runter, oder 5 Stunden in strömendem Regen und Schlamm und klatschnass einem wunderschönen Fluss entlang.

Einmal habe ich mich verlaufen: Nach 4 Stunden Wanderung, in einem Gebiet von vielleicht 100 Quadratkilometern mit nur einer Hütte und keinem Haus, ohne Landwirtschaft, wurde der einsame, steile Pfad im dichten Wald immer unwegsamer, jeder Schritt durch Schlamm und Gebüsch anstrengender. Dann habe ich den Weg ganz verloren, bin auch einige Meter nach unten gestürzt, habe lange versucht wieder nach oben zu gelangen, ging aber nicht, der Wald war zu steil, voller Bambus, absolut kein Durchkommen.

Habe dann versucht den Weg unten wieder aufzunehmen, wusste aber nicht wo suchen. Und für 4, 5 Schritte brauchte ich eine Minute, bin laufend umgefallen, die Kleider zerrissen, der ganze Körper verkratzt. Ich hatte zwar ein Handy mit Navigationssystem dabei (und manchmal gar Empfang!), und wusste somit genau wo ich bin und kannte mein Ziel. Aber ohne Weg – auch wenn er noch so schlecht war, und ich ihn vorher oft verflucht hatte – waren die 4 Kilometer zum Ziel nicht bis am Abend zu schaffen.

Dann habe ich folgendes probiert: ich bin nach Süden gegangen, etwa 100 Meter, wieder super anstrengend, hat 30 Minuten gedauert. Dann nach Osten, eigentlich die falsche Richtung, aber ich dachte, so muss irgendwann der Weg kommen. Einzig, nach Osten ging es gegen den Bambus und leicht nach oben, das war noch anstrengender, bin fast wahnsinnig geworden. Aber es ging. Irgendwann war der Weg da, sogar mit noch mehr Schlamm, sehr gut, so konnte ich ihn gleich erkennen – aber erst als ich draufstand. Habe ich mich gefreut!

Das Tagesziel war ein verstecktes, kleines Onsen, ein uralter Gasthof mit heissen Quellen. Zum Abendessen nach dem Bad hatte ich stilgemäss ein Yukata (ein einfacher Kimono) angezogen. Getränke waren Selbstbedienung, also gehe ich und füllte mir ein Bier. Auf dem Rückweg zum Tisch schäumt das über, der Boden wird nass, ich bücke mich, der Yukata geht auf; so stehe ich also, unbeholfen grinsend halb nackt in einer Bierlache, mitten im Nirgendwo. Aber, und so ist Japan, dann haben mich die Leute angesprochen, mir ein Tuch gereicht, waren auch sonst sehr nett.

Fazit: Raues Land, feine Leute – und dazwischen ein Ausländer.

         

      

   

8. August – Die ersten Tage
Die ersten 65 Kilometer sind gewandert, heute ist Ruhetag, Zeit für einen kurzen Rückblick: Die Ausrüstung hat sich bewährt, die Unterkünfte sind super, das Wetter perfekt, die Insekten mögen mich sehr. Die täglichen Wanderungen waren lange, lange: Am ersten Tag 27 Kilometer, 7 Stunden, auf dem ganzen Weg habe ich nur 4 Menschen und kein Haus gesehen. Die Schmerzen sind gross und überall: von der Blase am grossen Zeh bis zum Sonnenbrand auf der Glatze, am dritten Tag bin ich mehr gekrochen als gewandert.

Ich könnte mit einigen hier sprechen, Velofahrer, Fischer, Bauarbeiter. Habe schon ein Handtuch, Apfelsaft, eine Melone und 10 Pflaster geschenkt bekommen. Klar, die Kommunikation ist schwierig, mein Japanisch leider nicht gut, meist erkenne ich erst Stunden später was eine Frage oder Antwort bedeutet hat. Alle sind sehr nett, ungewohnt nett, zu nett! Man spricht mit mir in höflichster (und absolut nicht verständlicher) Sprache, ich wurde drei Mal (in vier Tagen) kurz vor der Frühstückszeit angerufen, mit der Bitte bloss nicht zu spät zu kommen. Und einmal wollte ich ein (offenes) Bier bestellen, da es aber nur Bier in Flaschen gab, konnte ich auch nach langem Zureden kein Bier mehr bekommen, nur Entschuldigungen. Oder ich musste am 6:30 frühstücken – statt wie eigentlich geplant um 7 – weil ich doch früh loslaufen muss, weil es doch später heiss wird!

Zusammengefasst: Sehr schönes Land, sehr herzliche Menschen, die Schmerzen werden hoffentlich vergehen.

Nachtrag: Ich war gestern am jährlichen, grossen Stadtfest (siehe Bilder rechts unten), mit einem gewaltigen Umzug, ein bleibendes Erlebnis, und komme in der Menschenmenge mit einem japanischen Paar ins Gespräch, beide sehr nett: sie schenken mir einen Maiskolben, Sojabohnen und Oktopus, ich ihnen Bier, sie organisieren mir einen Stuhl für die Parade (in Japan sitzt man bei Festumzügen gemütlich am Strassenrand auf Decken oder Klappstühlen und macht Picknick). Irgendwann sage ich, ich sei mit einer Japanerin verheiratet, darauf sie: Ja, das wissen sie, ihr Name sei Junko. Ich war doch sehr erstaunt. Sie erzählten mir dann, die Frau arbeite in der Reservierungsabteilung meines Hotels und so viele Ausländer gäbe es hier nicht…

      

        

4. August – Anreise
Nach einigen Tagen bei meiner Familie im Süden bin ich in den Norden von Japan geflogen. Etwa die gleiche Strecke, die ich in den nächsten drei Monaten zurückzulaufen möchte – der Flug dauerte 90 Minuten. Von oben sieht man schön, dass in Japan nur die Täler besiedelt, die steilen Berge einsam, dicht bewaldet sind.

Dann die Ankunft in Hakodate: es ist regnerisch, dunkelgrau, kühl (im Gegensatz zu den letzten Tage, da haben wir die Klimaanlage zum Schlafen gebraucht, auf 29° eingestellt), der Flughafen ist auch auf Russisch angeschrieben, trotzdem sind die Leute nett: Gleich nach wenigen Minuten hat mich eine Frau angesprochen. Sie war auch die erste, die auf mein ‚Wandertuch‘, das Junko – meine geliebte Frau – gestickt und von vielen Freunden unterschrieben wurde, etwas geschrieben hat.

Der Flug ging etwas übers Ziel hinaus, bis auf die nördliche Insel Hokkaidō, so musste ich mit dem Zug zurück auf die Hauptinsel Honshū. Dieser nutzt dafür den Seikan-Tunnel, er verbindet seit 25 Jahren die beiden Inseln, ist fast 54 Kilometer lang und bis 240 Meter tief. Weiter ging es mit einem winzigen Zug, ein Wagen gross, der erst voll, am Ende fast leer war. Bin jetzt am Ziel, besser am Anfang, meinem ersten Etappenort Minmaya. Fühle mich am Ende der Welt.